Der Bundesgerichtshof hatte sich vor einigen Wochen erneut mit dem Thema Berufsunfähigkeit und der Frage, wie diese konkret zu bewerten ist, zu beschäftigen. Damit Sie das Urteil etwas besser verstehen und einordnen können, schauen wir uns neben der Urteilsbegründung auch erst einmal die Frage an:
Was ist Berufsunfähigkeit?
Die Berufsunfähigkeit wird jetzt endlich auch im Versicherungsvertragsgesetz, dem VVG konkret benannt und beschrieben. Maßgebend ist hier der § 172 des VVG, dort heißt es:
(2) Berufsunfähig ist, wer seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall ganz oder teilweise voraussichtlich auf Dauer nicht mehr ausüben kann.
OK, soweit so einfach und verständlich. Ganz vereinfacht ausgedrückt also: “Kann ich das nicht mehr arbeiten was ich bisher tat bevor ich krank wurde, so bin ich dann berufsunfähig, wenn dieser Zustand voraussichtlich dauerhaft sein wird.”
Der konkrete Fall?
Die Klägerin macht Ansprüche gegen die Versicherung geltend und verloren dabei in den Vorinstanzen aus verschiedenen Gründen. Daher landete das Verfahren am Ende beim Bundesgerichtshof, welches sich dem Fall annahm und- soweit vorgegriffen- der Kundin teilweise recht gab und das Verfahren zurück an die Vorinstanz zur Überprüfung und neuen Entscheidung gab.
Die versicherte Dame war bis zu der Erkrankung als Hauswirtschaftlerin angestellt. In dieser Eigenschaft war diese allein für die Bewirtschaftung der Kantine einer größeren Anwaltskanzlei zuständig. Die Tätigkeiten umfassten unter anderem:
- – Reinigungsarbeiten
- – Blumenpflege
- – Betrieb der Kantine eigenverantwortlich
- – tägliche Zubereitung von 15-30 Mittagessen
- – Planung und Durchführung der Einkäufe im Großmarkt
Hier ergaben sich dann auch direkt die Probleme. Nach einem Treppensturz war die Versicherte längere Zeit krankgeschrieben und befand sich auch in der Folgezeit wegen psychischen Problemen, aber auch Rücken- und Wirbelsäulenbeschwerden in ärztlicher Behandlung. Als es nicht mehr ging, stellte diese einen Antrag auf Leistungen aus der abgeschlossenen Berufsunfähigkeitsversicherung.
Diese wurden- wie geschrieben- von den Vorinstanzen abgelehnt. Einer der entscheidenden Gründe war dabei, das Nichterreichen der 50%, welche erforderlich sind und waren und eine Leistung aus der BU Versicherung zu bekommen.
Denn nur wer zu 50% oder mehr nicht in der Lage ist seinen Beruf auszuüben, nur der hat einen entsprechenden Anspruch auf Rentenzahlung. Diese sollten- so die beauftragten Sachverständigen- hier mit 20% nicht erfüllt sein. Zudem dürften hier beiden 20% Werte aus Psyche und Rückenbeschwerden nicht zusammengerechnet werden.
Das Hauptproblem, das stellt am Ende auch das Wesentliche der Entscheidungsbegründung des BGH dar, ist aber etwas anders.
Reicht eine Teiltätigkeit aus, auch wenn die nicht 50% ausmacht?
Zunächst einmal hätte die Dame hier weitere Tätigkeiten ausüben können. Nicht nur die Reinigungsarbeiten, auch das Blumengießen und der Betrieb der Kantine waren möglich. So konnten diese Tätigkeiten auch mit Einschränkungen ausgeübt werden und begründen somit keine 50% BU Grad.
Das was Sie aber nicht mehr konnte, waren einige andere Tätigkeiten. So war es erforderlich die Lebensmittel im Großmarkt einzukaufen, da hier nur ein Budget von wenigen Euro pro Essen zur Verfügung stand. Dabei war es erforderlich, dass hier auch große Lasten zu heben waren. Zum Aufgabenbereich gehörte auch:
- – Einkauf im Großmarkt, Kartoffeln unter anderem in Säcken a 25 kg
- – diese mussten dann in den Keller gebracht werden, hierzu waren viele einzelne Gänge nötig
- – die Einkäufe mussten auch in die Kantine transportiert werden und dort eingeräumt
Laut Auskunft des Sachverständigen sei aber das Heben von großen Gewichten zwar nicht zu vernachlässigen, und auch das Treppensteigen sei problematisch, aber es handle sich ja nicht um eine mehrstündige Dauerbelastung.
Der BGH sah dieses aber ganz anders und schrieb in seinen Entscheidungsgründen:
aa) Für die Bemessung des Grades der Berufsunfähigkeit darf nicht nur auf den Zeitanteil einer einzelnen Tätigkeit abgestellt werden, die der Versicherungsnehmer nicht mehr ausüben kann (hier: Tragen schwerer Lasten), wenn es sich hierbei nicht um eine abtrennbare Einzelverrichtung handelt, sondern diese untrennbarer Bestandteil eines beruflichen Gesamtvorgangs ist (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Januar 2011 IV ZR 190/08, VersR 2011, 552 Rn. 13; Senatsurteil vom 26. Fe-bruar 2003 IV ZR 238/01, VersR 2003, 631 unter II 2 a [juris Rn. 13]).
Ist also diese eine Tätigkeit (unabhängig davon wie hoch der tatsächliche Zeitaufwand hierfür ist) nicht mehr möglich und ist damit der weitere Berufliche Arbeitsumfang nicht mehr auszuüben, kann sehr wohl auch eine Berufsunfähigkeit im Sinne der Bedingungen vorliegen.
Dieser wöchentliche Einkauf ist als untrennbarer Bestandteil der von der Klägerin arbeitsvertraglich geschuldeten Versorgung der Mitarbeiter durch die von ihr selbständig zu führende Kantine anzusehen. Soweit der Klägerin die notwendigen Einkäufe nicht mehr möglich gewesen sein sollten, war ihr auch die weitere Führung der Kantine nicht mehr möglich. Sie hätte dann ihre arbeitsvertraglichen Pflichten in diesem Bereich vollständig nicht mehr erfüllen können.
Fazit aus dem Urteil IV ZR 535/15
Es reicht eben nicht aus zu prüfen, ob und wie die 50% Grad der Berufsunfähigkeit erreicht werden können. Vielmehr muss der Versicherer und damit im Zweifel auch der Richter im Verfahren überprüfen, ob so genannte elementare Tätigkeiten, also Tätigkeiten die nicht mehr ausgeübt werden können und dadurch der Rest des Berufes auch nicht mehr möglich ist, beeinflusst sind.
Ist dem so, so kann auch bei einem Grad von unter 50% eine Leistungspflicht bestehen, denn hier ist allein durch einen kleinen Teil der nicht mehr erledigt werden kann, der Rest der beruflichen Tätigkeit ad absurdum geführt.
Das Urteil im Volltext hat der BGH als pdf zur Verfügung gestellt.